Und plötzlich kam kein Morgen
Roman
Plöttner Verlag
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Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Plöttner Verlag GmbH & Co. KG 2011, Leipzig
1. Auflage
ISBN 978-3-86211-026-1
Layout: Fratelli Walter
Umschlaggestaltung: Walter Melzner
Lektorat: Hagen Schied
Druck: Inprint GmbH, Erlangen
www.ploettner-verlag.de
Für Sonja, meine Mutter
Anja
1
Diese Augen sprühten Feuer. Der ganze Mann war außer sich. Aufgeregt stakste er im Wohnzimmer hin und her und malte mit ausladenden Bewegungen Bilder von einem Dorf und seiner Landschaft in den Raum.
Anja war Hartwigs Begeisterung ausgeliefert, unfähig, ihm ins Wort zu fallen. So hatte sie ihren Mann noch nicht erlebt. So überschwänglich, fast ohne Kontrolle.
»Warum hast du uns denn nicht schon früher davon erzählt?«, brachte sie endlich kleinlaut heraus und sah, um Unterstützung bittend, zu ihrer Schwiegermutter hinüber. Im selben Augenblick tat es ihr leid, denn sie hatte sich immer dagegen gewehrt, wenn sich Hildegard in ihre Ehe einmischte. Und Anja konnte erwarten, dass sie auch diesmal die Partei ihres Sohnes ergreifen würde. Aber die alte Frau setzte sich schweigend in einen Sessel und wirkte eigenartig blass.
»Weil ich noch nicht wusste, ob es wirklich klappt«, argumentierte Hartwig leidenschaftlich, »schließlich musste alles für die Zusammenlegung der Grundstücke geprüft werden.« Er griff nach Anjas Händen. »Mutter, sag doch auch was! Ist es nicht fantastisch, dass wir das alte Gutshaus und wenigstens einen Teil Land wieder im Familienbesitz haben? Ich kann es immer noch nicht fassen. Die Kranzows halten wieder Einzug in ihr Familiengut an der Müritz.«
»Ja, es ist kaum zu glauben«, sagte Hildegard mit einem matten Lächeln und ihre Frage klang fast ängstlich, »wie es da jetzt wohl aussehen mag?«
Anja verstand Hartwigs Begeisterung. Es war immer eine fixe Idee von ihm gewesen, dieses Gut eines Tages zurückzukaufen. Aber dass es jemals dazu kommen würde, hatte sie nie geglaubt. Und jetzt, wo alles so greifbar nahe war, wollte sie es nicht glauben. Sie fühlte sich wohl hier in Bonn am Rhein, in ihrem komfortablen Haus in der Südstadt. Ihr Leben verlief in ruhigen Bahnen, und es gab für sie keinen Grund, daran etwas zu ändern.
»Es ist alles vorbereitet. Die Verträge müssen nur noch unterschrieben werden.«
»Findest du das nicht alles ein bisschen plötzlich?« Anja hatte sich wieder gefasst.
»Nein, wieso? Jetzt ist alles geprüft. Wir wären verrückt, wenn wir nicht sofort zuschlagen würden. Bei dem Spott- preis.«
»Und die Renovierungen? Weißt du genau, was das alles kosten wird?«
»Seit wann interessierst du dich für Kosten, Anja Schatz? Ich habe alles überprüft, das genügt doch.«
Hartwigs Enttäuschung war ihm anzusehen. Anja ver- suchte ein versöhnliches Lächeln, aber es gelang ihr nicht. Auch spürte sie, dass sie etwas hätte sagen müssen, so etwas wie »bitte, lass uns noch einmal in Ruhe darüber reden«. Aber sie brachte kein Wort heraus, und Hildegard verkroch sich noch tiefer in ihren Sessel.
In Hartwigs Begeisterung mischte sich Ärger. »Kann man euch denn gar nichts recht machen? Was ist denn bloß los mit euch?«, fragte er fassungslos.
Als er keine Antwort bekam, wandte er sich um und knallte wütend die Tür.
2
Drei Monate später.
Schwarzgraue Wolken hingen auch in diesen Tag herab.
Sträucher und Bäume, die Häuser, die Straßen, seit fast drei Wochen troff alles vor Nässe. Der Regen schoss unzählige kleine Löcher in die braunen Fluten des Rheins, und doch gingen die Reparaturarbeiten auf der Brücke weiter. Gekreisch von Baumaschinen erfüllte die Luft. Dazwischen Motorengebrumm, Hupen, Arbeitergebrüll.
Draußen am Stadtrand kam davon nur ein gedämpftes Raunen an. Die breiten Blätter der Platanen schwächten den Regenangriff ab, es roch nach gemähtem Gras und frisch ausgehobener Erde.
In Anjas Kopf flatterten die Gedanken wie aufgescheuchte Vögel. Hier, wo sie sich nicht mit Frühstücksfernsehen, dem neuesten Fall eines italienischen Commissarios oder dem Abknicken verwelkter Geranienblüten ablenken konnte, überfielen sie unbeantwortete Fragen. Davon gab es in letzter Zeit mehr, als ihr lieb waren. Vor allem fragte sie sich, warum sie Hartwig nicht einfach »Nein« gesagt hatte.
Er stand neben ihr und starrte ausdruckslos auf den Berg von Blumen. Das Loch vor ihren Füßen hatten sie für seine Mutter gegraben, die er auf seine Weise geliebt und bewundert, in letzter Zeit aber vernachlässigt hatte. Er wusste, dass sie nur für ihn gelebt hatte, für ihn und seine Karriere. Hildegards Tod warf Hartwigs Pläne über den Haufen. Alles war für den Umzug an die Müritz vorbereitet, aber für seine Mutter war es zu spät. Hartwig konnte ihr seine Dankbarkeit jetzt nicht mehr beweisen.
Anja sah an Hartwig hoch. Sie kannte seine stille Art zu trauern. Sie schob ihre rechte Hand in seine linke, zeigte ihm so, dass sie mit ihm fühlte. Warum war es überhaupt so weit gekommen?, fragte sie sich. Sie wollte nicht weg aus Bonn, dem Viertel mit den kunstvollen Stilbauten, die im Krieg fast unbeschädigt davongekommen waren, der bunten, tagsüber von Menschen nur so wimmelnden Innenstadt, dem alten Rathaus, der Oper, der Konzerthalle. In letzter Zeit war ihr vieles aufgefallen, was sie immer für selbstverständlich gehalten hatte. Vor allem die unverwechselbare Art, wie man am Rhein das Leben nahm.
Das Rheinland war Anjas Heimat, und sie war gerne hier. Das alles sollte zu Ende sein, bloß weil sie nicht rechtzeitig »Nein« gesagt hatte?
Erschrocken über diesen Gedanken zog Anja ihre Hand zurück. Das Leiern der Männerstimme, die von »unserer Schwester Hildegard von Kranzow« sprach, beruhigte sie wieder. Ihr fielen die täglichen Kleinigkeiten und Begegnungen ein, die plötzlich Bedeutung bekamen. Der alte Schmitz vom Kiosk, der ihr jeden Morgen, noch bevor sie am Tresen stand, schon das Neueste ins Gesicht schleuderte und den Kommentar gleich dazu, sie brauchte das Blatt dann gar nicht erst zu lesen. Oder der stotternde Bäcker, der ihr mit seinen anzüglichen Blicken Komplimente machte, wenn sie die Brötchen bestellte. Besonders die Treffen mit Vera und Aida, ihren ehemaligen Klassenkameradinnen, obwohl sie sich in letzter Zeit kaum noch gesehen hatten. War das alles Kitsch? Überflüssig?
Sie wusste jetzt, es würde weh tun, das alles zurückzulassen und musste sich eingestehen, dass sie wieder einmal nicht aus Hartwigs Schatten herausgetreten war. Wie so oft in ihrer Ehe hatte sie es verpasst mitzureden. Aber diesmal mit unabsehbaren Folgen.
Sie schluchzte. Die rotgoldene Schleife mit der Aufschrift:
»Wir werden Dich nie vergessen. Dein Sohn Hartwig mit Anja, Tessy und Chris« verschwamm vor ihren Augen.
Als Hartwig bemerkte, dass sie weinte, legte er mit großer Geste einen Arm um ihre Schulter. Er hatte sie wieder einmal nicht verstanden.